Tantra, Sexualwissenschaft und weiße Flecken
Es gibt keine weißen Flecken: Wenn Du zu einem Thema keine wissenschaftliche Literatur findest, dann hast Du nur nicht gut genug gesucht! Angesichts meiner mageren Erfolge bei einer Literaturrecherche zu(r) Tantra Szene(n), beginne ich diesen Lehrsatz anzuzweifeln (ich würde mich aber gerne eines besseren belehren lassen). Während zu sado-masochistischen Neigungen und zur BDSM-Szene Artikel ohne Ende erschienen sind und auch die Swinger eine “gut untersuchte Spezies” zu sein scheinen, hat mich meine Literaturrecherche zum Thema Tantra-Szene ziemlich ratlos zurückgelassen. Wie wieviele Leute machen Tantra? Wer sind diese Leute? Was suchen die dort? Was finden sie? Welche positiven Effekte haben Tantra-Praktiken? Welche negativen vielleicht auch? Und vor allem: was machen sie da eigentlich in diesen Tantra-Kursen, -Seminaren, -Retreats? Ich möchte da eigentlich nicht hingehen müssen, um meinen Studierenden einen Einblick geben zu können, ich hätte gerne seriöse wissenschaftliche Literatur gefunden, die mir diese Fragen beantwortet und eine eigene (womöglich teilnehmende….uaaahhhh….) Recherche erspart.
Was ich gefunden habe: eine Reihe von religionswissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit sehr speziellen Aspekten des Tantra in diversen heiligen Schriften aus längst vergangenen Zeiten befassen. Sicher ziemlich spannend, wenn man Zeit hat, sich da einzulesen und reinzugraben, aber überhaupt nicht das, was ich gesucht hatte. Dann eine Mininotiz von einer wissenschaftlichen Konferenz, wo eine Wissenschaftlerin die Potentiale von Tantra für die Sexualtherapie andeutet. Und schließlich zwei Bücher: “Magia Sexualis : Sex, Magic, and Liberation in Modern Western Esotericism” und ” Tantra: Sex, Secrecy, Politics, and Power in the Study of Religion “, beide von Hugh B. Urban, einem Religionswissenschaftler und Tantriker, bei dem auch der religionswissenschaftliche Aspekt im Vordergrund steht, der sich aber auch dafür interessiert, wie diese Kulte (ist das das richtige Wort?) und Praktiken in der westlichen Welt gelebt werden und wie sich Ost und West gegenseitig (!) beeinflusst haben.
Diese beiden Bücher werde ich mir mal noch genauer ansehen (und sie ggf. hier vorstellen), aber ich fürchte, auch das ist nicht das, was ich gesucht habe. Und das ist dann schon wieder spannend. Warum interessiert sich die sozialwissenschaftliche (oder auch psychologische) Sexualforschung nicht für die Tantra-Szene und entsprechende Praktiken? Weil sie im Gegensatz zu BDSM “harmlos” sind? Nicht in Verdacht stehen, Ausdruck “pathologischer” Neigungen zu sein? Weil Tantra ein Vergnügen der weißen Mittelklasse ist/zu sein scheint, das klassische Geschlechterverhältnisse und Beziehungsformen nicht grundsätzlich in Frage stellt? Oder weil der “Zugang zum Feld” nicht so einfach ist und andere Sozialwissenschaftler*innen genauso wie ich davor zurückschrecken, sich in entsprechende Szenen zu begeben?
Ich vermute, dass Tantra für die Sexualwissenschaften nicht interessant ist, weil es kein Problem ist. Wenn Menschen sich möglicherweise gesundheitlichen Schaden zufügen, wenn sie Krankheiten übertragen, wenn sie angesichts ihrer Neigungen als krank und/oder gefährlich angesehen werden, dann ist das ein Problem. Und dann besteht eine Chance auf ein gesellschaftliches oder politisches Interesse an dieser Forschung und vielleicht auch auf Forschungsgelder. Wenn etwas kein Problem ist (oder zu sein scheint, mir erscheinen durchaus Aspekte an tantrischen Praktiken potentiell problematisch, wie zum Beispiel essentialistische Geschlechterrollen oder auch fragwürdige Konsenspraktiken bei manchen Vertreter*inne/Anbieter*innen) dann wird darüber nicht geforscht, selbst dann nicht, wenn es möglicherweise eine positive Ressource für Menschen darstellen könnte, eine Quelle sexueller und damit allgemeiner Gesundheit.
Und das gilt leider für die Sexualwissenschaft insgesamt. Wo man hinschaut: Probleme, Probleme, Probleme! Menschen die zu viel Pornos schauen, Pädophile, Jugendliche, die keine Kondome verwenden, SMler die bei riskanten Fesselpraktiken ums Leben kommen, sexuell übertragbare Krankheiten, riskante Sexualpraktiken…Wer sich ein wenig mit Sexualforschung beschäftigt, kann schnell mal den Eindruck bekommen, Sexualität sei eine durch und durch dunkle, riskante, gefährliche und böse Sache, die wir vielleicht dann doch lieber ganz bleiben lassen sollten. Und das ist sehr, sehr schade. Deswegen: liebe Sozialwissenschaftler*innen, beschäftigt Euch mit Sexualität auch dort, wo sie nicht weh tut, wo sie als positiv erlebt wird, wo niemand leidet! Besucht die sexpositiven Partys, die glücklichen Paare und auch die Tantra-Schulen. Dann muss ich das nicht machen.
Nachtrag: Ich weiß, dass sich die Sexualwissenschaft nicht im luftleeren Raum bewegt und auf Forschungsgelder angewiesen ist, sowie auf ein offenes, forschungsfreundliches und wahrscheinlich auch sexpositives gesellschaftliches Klima und dass sich deswegen durch Appelle allein gar nichts ändern wird. Wünsche wird man trotzdem haben dürfen.
problem driven evidence discovery for evidece based prevention
So ist es halt in der Sozialwissenschaft. Aber die Frage stellt sich doch auch, wer hier jeweils die Definitionsmacht für “problematisch” hat. Vielleicht ist Tantra-Sex (habe keine Ahnung was es wirklich kann) ja auch die Lösung von bestimmten Problemen, die zuvor von irgendjemandem mit Definitionsmacht erkannt wurden. Bin jedenfalls gespannt, ob Sie oder Ihre Student*innen noch was findet…
Ja, die Frage stellt sich allerdings, wer die Definitionsmacht für “problematisch” hat. Das ist ja genau der spannende Punkt bzw. einer der spannenden Punkte. Auch dabei: wer ist an Pathologisierung interessiert? Und Tantra könnte ja nicht nur gegen “Probleme” helfen sondern selbst eines darstellen. Und schließlich: auch das Nichtproblematische könnte erforschenswert sein (die Psychologie insgesamt hat diese Neuorientierung ja bereits geschafft)