Can science save your sex life? – “Tell me what you want” von Justin Lehmiller
Kann Wissenschaft unseren Sex retten? In ganz optimistischen und wissenschaftsverliebten Momenten glaube ich das tatsächlich, in allen anderen hoffe ich es zumindest. Der amerikanische Psychologe, Sexualwissenschaftler und Autor Justin Lehmiller scheint es zu glauben. Er hat nach einigen wissenschaftlichen Fachartikeln, einigen populärwissenschaftlichen Artikeln und einem Lehrbuch nun auch einen Sexratgeber geschrieben, der sich meiner Meinung nach erfreulich von dem abhebt, was sonst so zu diesem Thema zu bekommen ist: “Tell me what you want”, 2018 erschienen bei Da Capo Press (leider bislang nur auf englisch).
Basis für dieses Buch ist ein große Onlineerhebung, in der der Autor die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach ihren sexuellen Phantasieren gefragt hat, – mit durchaus bemerkenswerten Ergebnissen. So scheinen etwa Anhänger*innen der Republikaner (die Konservativen also) besonders häufig vom Fremdgehen und von Gruppensex zu träumen, während bei den Anhänger*innen der Demokraten BDSM-Phantasien besonders verbreitet sind. Allgemeiner Tenor: ungewöhnlich scheinende sexuelle Phantasien sind häufiger als man vielleicht denkt, niemand muss sich also dafür schämen, und sexuelle Beziehungen können davon profitieren wenn wir sie einander erzählen. Bei den Befragten handelt es sich natürlich um keine repräsentative Zufallsstichprobe, weshalb sich mir als Methodikerin die Frage stellt, welcher Bias (welche Verzerrungen) dadurch entstanden sein könnte, dass möglicherweise bestimmte Personen an der Studie teilgenommen haben und andere eher nicht. Da die Gruppe der Befragten aber ziemlich groß und auch ziemlich divers ist, ist das wohl eher ein vernachlässigbares Spezialproblem.
Inwiefern hilft es uns wirklich zu wissen was andere phantasieren und tun? Inwiefern kann Wissenschaft unseren Sex retten? Dieser Frage wendet sich Justin Lehmiller im Kapitel “Can science save your sex life?” zu. Aus seinen eigenen und anderen Forschungsergebnissen leitet er ab, dass Menschen dann die wenigsten sexuellen Probleme haben, wenn sie sich am wenigsten für ihre Phantasien und Neigungen schämen. Und dass das Reden über diese Phantasien die Beziehungsqualität und die Sexualität selbst verbessern. Auf Basis von korrelativen Erhebungen wie dieser lassen sich natürlich im Grunde keine Aussagen über Ursache und Wirkung machen, es wäre ebenso möglich, dass Menschen, die guten Sex haben, ihren Partner*innen eher ihre Phantasien erzählen und sich deswegen weniger dafür schämen. Hinreichend plausibel finde ich die Empfehlung, Phantasien zu akzeptieren und zu teilen, aber trotzdem. Also ja, das könnte so ein Beispiel dafür sein, dass wissenschaftliche Erkenntnisse wirklich Nutzen fürs tägliche (bzw.. nächtliche ;-)) Leben bringen.
Ich kann “Tell me what you want” also allen, die sich von ein wenig Englisch nicht abschrecken lassen, wirklich empfehlen. Mit diesem Fokus auf Empirie statt auf fragwürdigen Handlungsempfehlungen, die doch wieder nur den sexuellen Status quo zementieren, oder auf esoterischem Blabla, stellt dieses Buch aein erfreuliche Ausnahme im sonst oft eher fragwürdigen Sexratgebersegment dar. Was nicht heißt, dass ich alles uneingeschränkt gut finde, was drin steht. Als abtrünnige Psychologin und überzeugte Sozialwissenschaftlerin finde ich, dass es manchmal zu stark auf scheinbar universelle Gesetzmäßigkeiten (z.B. auf Unterschiede zwischen Männern und Frauen) fokussiert und sozialen Erklärungen für diese Unterschiede wenig Platz einräumt. Mir fehlt also dieses: das ist in meiner Studie so, aber es könnte auch ganz anders sein. Aber das ist Justin Lehmüller nicht wirklich persönlich zum Vorwurf zu machen, das ist ein grundsätzliches Problem seiner (und meiner ursprünglichen) Disziplin. Ja und manchmal kommen die langen Nacherzählungen sexueller Phantasien aus den Fragebögen etwas “softpornoesk” rüber, aber das muss ja nicht unbedingt ein Nachteil sein.
“Tell me what you want” ist bei Da Capo Press erschienen und dürfte sich als gebundenes Buch im 20-30 Euro-Segment bewegen (englischsprachige Bücher unterliegen nicht der Buchpreisbindung). Mir wurde vom Verlag dankenswerterweise ein elektronisches Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.
“Und dass das Reden über diese Phantasien die Beziehungsqualität und die Sexualität selbst verbessern”
Und da kommt sie wieder auf, die Frage, die mich schon länger beschäftigt. Gibt es Erhebungen darüber, ob Beziehungen, die übers net beginnen, dauerhafter und glücklicher sind als diejenigen, die zum Beispiel auf einer Begegnung im Club oder auch am Arbeitsplatz gründen? Es drängt sich mir der Verdacht auf, dass in der anfänglichen Anonymität einer virtuellen Plattform schon Dinge vorab “abgeklopft” und mitgeteilt werden können, was im persönlichen Gespräch dann auf Grund der befürchteten Reaktion vielleicht deutlich schwerer fällt. Kennst du da solche Ergebnisse?
Interessante Frage! Bisher habe ich mich damit noch nicht beschäftigt aber ich mache gerne mal eine Literaturrecherche für einen der nächsten Beiträge!
da bin ich echt gespannt drauf!