Depression und Sexualität
Ich recherchiere gerade zum Thema (chronische) Krankheit und Sexualität und bin dabei auch auf das Thema Depression gestoßen. Und das scheint gerade im Zusammenhang mit anderen (chronischen) Krankheiten ganz schön kompliziert zu sein: chronische Krankheiten können zu sexuellen Problemen führen und diese dann wieder zu Depressionen. Depression kann aber auch eine direkte Folge der chronischen Erkrankung und der sonstigen mit ihr einhergehenden Einschränkungen sein. Und schließlich kann Depression selbst zu sexuellen Funktionsstörungen führen. Oder die Medikamente, die gegen Depressionen eingesetzt werden.
Sexuelle Funktionsstörungen können zum Beispiel Erektionsstörungen sein oder Erregungsstörungen oder Schwierigkeiten, zum Orgasmus zu kommen. Und genau so etwas erleben Menschen, die Depressionen haben und Medikamente dagegen nehmen, sogenannte SSRIs (selektive Serotonin-Wiederaufnahme- Hemmer) , wohl häufiger. Nun weiß man ja: auch die Depression selbst kann zu sexuellen Beeinträchtigungen führen. Was davon ist also auf die Depression und was auf ihre Behandlung zurückzuführen?
Ich habe einen Artikel gefunden, der sich genau mit dieser Frage beschäftigt hat und dafür eine Gruppe von Frauen mit Depressionen, die diese Medikamente genommen haben, mit einer Gruppe von Frauen verglichen hat, die ebenfalls Depressionen derselben Stärke hatten aber keine Medikamente dagegen genommen haben. Dabei stellte sich heraus, dass in beiden Gruppen verschiedene sexuelle Einschränkungen wie zum Beispiel Erregungsstörungen oder Lustlosigkeit gleich häufig vorkamen. Mit einer Ausnahme: Orgasmusstörungen, also Schwierigkeiten, in einer bestimmten Zeit oder überhaupt zum Orgasmus zu kommen, waren in der Medikamentengruppe deutlich häufiger. Diese Art der sexuellen Störung stellt also wohl tatsächlich eine häufige Nebenwirkung der Medikamente dar.
Eine Depression ist eine fiese Sache mit einem teilweise extremen Leidensdruck, so dass viele Menschen diese Nebenwirkung sicher gerne in Kauf nehmen, wenn ihnen durch Antidepressiva geholfen werden kann. Es gibt aber auch Menschen, die diese Nebenwirkungen als so einschränkend und zusätzlich belastend wahrnehmen, dass sie diese Medikamente lieber nicht weiter nehmen wollen. Gut wäre, sie könnten das dann gemeinsam mit ihrer Ärztin/ihrem Arzt besprechen und Wirkungen und Nebenwirkungen gemeinsam gegeneinander abwägen. Leider passiert genau das – und das ist ein zweiter häufiger Befund zum Thema Depression und Sexualität – aber oft nicht: weil Ärztinnen und Ärzte das Thema Sexualität selbst nicht ansprechen und weil Patientinnen und Patienten sich nicht trauen oder es irgendwie nicht passend finden, es von sich aus zu thematisieren.
Eine Studie dazu, die mich ziemlich beeindruckt hat, hat Patientinnen und Patienten einer psychiatrischen Klinik befragt, welche Rolle Sexualität und sexuelle Einschränkungen für sie spielen. Dabei zeigte sich, dass selbst für Patientinnen und Patienten mit schweren Depressionen Sexualität noch immer wichtig ist und sie sich wünschen würden, dass das medizinische Personal das stärker berücksichtigt beziehungsweise auch thematisiert. Ich glaube da liegt noch ein weiter Weg vor uns, bis auch im Gesundheitssystem angekommen ist, das Sexualität nicht nur ein „nettes Extra“ für junge gesunde Menschen ist, sondern häufig ein zentraler Aspekt der Lebensqualität von Menschen allen Alters und unterschiedlichen Gesundheitszustandes.
Was sind Eure Erfahrungen? Habt Ihr mit Euren Ärztinnen und Ärzten irgendwann mal über sexuelle Themen gesprochen? Wenn ja, wer hat das Thema angesprochen? Und habt Ihr bereits Erfahrungen gemacht mit Depression, Medikamenten und sexuellen Problemen? Ich freue mich über Kommentare!
Das grundsätzliche Problem mit statistischen Studien dieser Art (d.h. mit Studien auf phänomenologischer Ebene, die nur finale Auswirkungen und nicht Mechanismen untersuchen, wie es in Feldern wie der Medizin leider üblich ist), ist aus meiner Sicht, dass zwischen Korrelationen und kausalen Zusammenhängen nicht unterschieden oder nur unzureichend unterschieden werden kann. Entgegengesetzte Effekte (wie hier zb. Besserung der Symptome durch verbesserte Stimmungszustände und gleichzeitige Verschlechterung der Symptome durch das Medikament) bleiben dabei meist ebenso unberųcksichtigt wie individuelle Unterschiede (d.h. Besserung bei den einen, Verschlechterung bei den anderen Probant*innen).
Mir ist natürlich klar, dass in derart komplexen Systemen nicht auf so fundamentaler Ebene geforscht werden kann, wie zb. in der theoretischen Physik. Dennoch halte ich die Schlussfolgerungen, die aus solchen Studien gezogen werden für meistens stark überambitioniert. Leider liegt es wohl aber in der Art (ob Natur oder Kultur sei dahingestellt) unserer Gesellschaft, mit Unwissenheit nicht gut umgehen zu können und sich daher lieber der Illusion von Wissen hinzugeben.
Ungeachtet dessen, zur anschließenden Frage des Artikels: Ja, ich habe bereits selbst Erfahrungen mit SSRIs und sexueller Funktionsstörung machen müssen. Das erste Medikament, das mir verschrieben wurde führte zu vollständiger Orgasmusunfähigkeit. Darauf angesprochen reagierte mein Psychiater mit etwas deplaziertem Humor („Müssen Sie sich halt eine Affäre suchen.“) und verschrieb mir ein anderes Medikament, das ich besser vertrug.
Allgemein kann ich mich nicht erinnern, jemals von einer Ärztin oder einem Arzt auf sexuelle Funktionen angesprochen worden zu sein. Ich sehe das aber nicht ausschließlich als Problem des Tabuthemas Sexualität. Auch andere Themen kommen bei Diagnosegesprächen häufig zu kurz. Wie oft wird man beispielsweise nicht gefragt, ob man Medikamente nimmt, bevor etwas neues verschrieben wird? So kritisch ich der sogenannten alternativen Medizin in vielen Bereichen auch gegenüberstehe – hinsichtlich ganzheitlicher Betrachtung der Patient*innen hat die Schulmedizin hier dramatischen Aufholbedarf.
Deine skeptische Einschätzung der Erkenntnismöglichkeiten solcher Studien teile ich weitgehend. Sowohl das Problem, dass das Aggregat möglicherweise gegenläufige Tendenzen schluckt, als auch das Problem der unklaren Kausalrichtung, weil die Phänomene nicht auf der Funktionsebene untersucht werden (können). Was ich nicht teilen würde wäre die Schlussfolgerung, dass wir es hier nur mit einer Wissensillusion zu tun haben. Solche Studien zeigen natürlich weniger, als oft behauptet wird aber eben auch nicht nichts. Wissenschaft ist immer noch das Beste, was wir haben, da möchte ich gerne daran festhalten 😉
Vielen Dank für Deinen persönlichen Erfahrungsbericht. Der „Humor“ des Psychiaters ist katastrophal, weil er eine andere Person mit weniger Reflexionsvermögen womöglich noch glauben gemacht hätte, da gäbe es eine Beziehungsproblem, das zu den Orgasmusproblemen führt.
Vielen Dank für Deinen ausführlichen, gut argumentierten und spannenden Beitrag. Du wärst sicher ein spannender Gesprächspartner zum Thema Wissenschaftsmethodik, mach Dich bemerkbar, solltest Du mich im echten Leben mal treffen!
Das sind ja nette Streicheleinheiten für mein Ego – dankeschön :). Wir haben einander schon getroffen (ohne deine Visitenkarte h
wäre ich nicht über deinen Blog gestolpert) und ja, ich hoffe, dass wir das bei Zeiten wiederholen können.